
Für den Studenten gilt die Faustregel, dass man in einer Vorlesung etwas lernen kann, möglichst auch etwas, was später im Beruf hin und wieder hilfreich ist. Ganz genial ist es, wenn der nachhaltige Lerneffekt gerade auch mal durch das Nichtvorlesen eintritt.
Also: Vorlesung in den 1970er-Jahren bei/durch Professor Baumann in Tübingen, damals einer der führenden deutschen Strafrechtslehrer. Der Hörsaal war wie üblich mit 300 bis 400 Studenten gut gefüllt. Man saß wie im Theater in ansteigenden Sitzreihen, alles schaute mehr oder weniger aufmerksam nach vorn. Unten im Zentrum dozierte der Prof.
Ein Hörsaal wird zur Theaterbühne
Rechts und links waren seitlich vom Pult zwei der Eingänge des Hörsaals. Mitten in der Vorlesung gingen beide Türen etwa gleichzeitig auf, herein kam jeweils eine Person. Beide gingen von ihrer Tür aus am Pult entlang auf den Prof zu. Einer der beiden Eindringlinge gab dem Lehrkörper eine Ohrfeige, dann gingen beide unter dem Raunen der Menge schnell wieder hinaus. Keiner hielt die beiden auf, denn Baumann winkte sofort mit beruhigenden Gesten ab und rief in sein Mikro, dass alles in Ordnung sei, er werde das selbst klären. Dann ging die Vorlesung weiter. Am Ende verließ Baumann eilig den Hörsaal und wimmelte einige besorgt nachfragende Studenten freundlich, aber bestimmt ab.
Ein Geschehen, viele Geschichten
Die Auflösung des Geschehens erfolgte in der nächsten Stunde in überraschender Weise. Baumann bat nach dem Zufallsprinzip eine Reihe von Studenten, den Vorfall der letzten Woche kurz zu schildern. Dann kamen zehn, zwölf, vielleicht fünfzehn höchst unterschiedliche Geschichten zum Vorschein, von denen man nicht glauben konnte, dass sie sich auf ein und denselben Vorgang bezogen. Anzahl, Alter und Geschlecht der Bösewichte, ihre Kleidung, ihre Laufrichtung, alles ging wild durcheinander, insbesondere blieb unklar, ob der/die von rechts oder der/die von links kommende/n Täter/gruppe nun die Ohrfeige ausgeführt hatte, oder waren es nicht mehrere Schläge, oder doch eher gar keine. Auch zu den Verletzungen, die der arme Professor erlitten hatte, gab es einige konkrete Angaben…
Irgendwann brach Baumann das Brainstorming lachend ab. Er erklärte, dass er das Geschehen natürlich vorher mit den beiden Angreifern verabredet hatte, und dass der eine nicht wirklich zugeschlagen habe. Er habe zeigen wollen und – wie er nach dem gerade Gehörten annehme – auch gezeigt, wie unsicher Zeugenaussagen seien und wie vorsichtig sie in der gerichtlichen Praxis zu bewerten seien. Dabei wies er darauf hin, dass sicher keiner bewusst falsche Angaben gemacht habe, warum auch? Aber das menschliche Wahrnehmungsvermögen sei individuell unterschiedlich ausgeprägt und unterliege zudem zahllosen momentanen Einflüssen, so dass eben solch ein Ergebnis wie vorhin herauskomme.
Merke: Besser konnte man‘s nicht zeigen – glaub‘ nicht gleich dem Augenzeugen!
Hier geht es zu weiteren Geschichten unseres Richters im Ruhestand