
Das 1957 erschienene Buch von Alfred Andersch stand nicht auf meiner Leseliste und geriet mir nur zufällig in die Hände. Bis zur letzten Seite konnte ich es dann nicht mehr aus den Händen legen und habe es gebannt, ja mit Sogwirkung in einem Zuge gelesen. Warum? Von Anfang an fühlte ich mich atmosphärisch versetzt in eine andere Zeit an einen anderen Ort – ein Zeitreisender durch Anderschs Worte.
In einfacher und vielleicht gerade deswegen so eindringlicher Sprache erzählt Andersch (* 1914) von der schicksalhaften Begegnung einiger Personen im kleinen Ostseehafen Rerik zur Zeit der Nazidiktatur:
Flucht in die Freiheit
Der kommunistische Funktionär Gregor soll im Untergrund agitieren; der ebenfalls kommunistisch gesinnte Fischer Knudsen könnte mit seinem Kutter nach Schweden fliehen, will aber seine behinderte Frau nicht zurücklassen; das jüdische Mädchen Judith will sich über die Ostsee in Sicherheit bringen; der alte Pfarrer Helander will den „Lesenden Klosterschüler“ retten, eine in seiner Kirche befindliche Holzplastik, die von den Nazis als entartete Kunst vernichtet werden soll; der namenlose Junge – Schiffsjunge auf Knudsens Kutter – will einfach nur weg in die große weite Welt, vielleicht nach Sansibar…
„Mama war gestorben, damit sie, Judith, nach Rerik gehen könne. Es war ein Testament, und sie hatte es zu vollstrecken.“
Andersch verknüpft diese Schicksale für einige wenige Stunden miteinander und erzählt doch unendlich viel über diese Menschen und die beklemmende Atmosphäre, in die sie zur damaligen Zeit gestellt sind. Die Nazis – im Buch durchgehend als „die Anderen“ bezeichnet – tauchen dabei eigentlich gar nicht auf, sie sind der alles durchdringende Überbau, der durch sein bloßes Vorhandensein Angst und Schrecken verbreitet.
„Es wäre einfacher, dachte Gregor, vom Meer abhängig zu sein, statt von den Menschen.“ Sätze wie dieser machen aus „Sansibar“ über die historische Momentaufnahme hinaus ein Buch, das auch in unseren Tagen angesichts unendlicher Flüchtlingsströme und millionenfachem Leid nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. (Manfred Schmitz-Berg)
Tipp: Der Roman wurde zweimal verfilmt (1961 von Rainer Wolffhardt und 1987 von Bernhard Wicki) – beide Fassungen sehenswert, wenn man zuvor das Buch gelesen hat.