Träumerin mit Klarsicht

„Wer bin ich, daß sich tausend Hände strecken, / Gierige und verschmutzte Alltagshände, / Nach meiner Seele, die der Feinsten eine, / Die mit dem Grase zittert unterm Weste, / Und Andacht hält in einem Lerchenliede!“

Auszug aus dem Gedicht „Abwehr“ von Margarete Beutler

„Wer bin ich“, fragt Margarete Beutler im Alter von 32 Jahren, vor über einem Jahrhundert. Ja, wer ist sie? Zu Lebzeiten hat sich Margarete Beutler (1876-1949) als Lyrikerin, Dramatikerin und Übersetzerin einen Namen gemacht. Sie war mit Christian Morgenstern, Erich Mühsam, Frank Wedekind und Else Lasker-Schüler befreundet. Der damals noch unbekannte Thomas Mann bat als junger Redakteur beim Simplicissimus „das Fräulein Beutler“, ihm weitere Arbeiten zukommen zu lassen.

Margarete Beutler hat sich 1933 geweigert, der „Reichsschrifttumskammer“ beizutreten, weitere Veröffentlichungen waren daher nicht mehr möglich. Dass sie auch eine größere Anzahl an Prosatexten verfasst hat, blieb daher bislang im Verborgenen. 1985 entdeckte Margaretes Enkel Martin Freksa bei einem Umzug zwei verstaubte Kartons auf dem Dachboden, die unter anderem mehr als 50 Erzählungen enthielten.

„Müde geworden bin ich in der Arbeit an diesem Manne, dessen Seele sich mir verschließt…“

Margarete Beutler, „Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet“, S. 173

Nun endlich, weitere 35 Jahre später, ist ein Teil dieser Erzählungen erschienen, herausgegeben von dem Hamburger Philologen Winfried Siebert und dem Tübinger Soziologen und Historiker Martin Freksa. Es ist kein Zufall, dass der Berliner AvivA-Verlag sich dieser verdienstvollen Aufgabe angenommen hat, verlegt dieser doch allein Werke von Schriftstellerinnen oder – wie vorliegend – solche, die sich mit dem Leben und Wirken von Frauen beschäftigen.

„Träume sind im Allgemeinen geschlechtslos. Von einem Traum aber weiß ich bestimmt, dass es eine Träumin war.“

ebd., S. 243

„Ihr umfangreicher, bislang unveröffentlichter Nachlass legt Zeugnis ab von der prophetischen Klarsicht der Dichterin und ihrer ungeheuer vielseitigen Kreativität“, schreibt Siebert über die außergewöhnliche Frau, Poetin und Zeitzeugin Beutler. Nicht nur für die beiden Herausgeber, die mit großer Hingabe das Vermächtnis von Margarete Beutler in mehrfacher Hinsicht entstaubt haben, ist der Dachbodenfund ein großes Glück. Gut 70 Jahre nach dem Tod der „fast vergessenen Schriftstellerin“ erhält die Öffentlichkeit nun mit „Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet“ intimen Einblick in Margarete Beutlers sehr lebendiges Werk.

„Des Menschen Heim…ist die Schale, in die er selber den Kern seines Wesens zu legen hat.“

ebd., S. 172

Die subjektiv geprägten Erzählungen über verschiedenste Lebensphasen und -situationen weisen Margarete Beutler als kritischen Geist aus, der seinen Zeitgenossinnen in vielem voraus war. Über die lustvolle Beschäftigung mit sich selbst oder eine Ehescheidungsschule für Frauen zu schreiben, gehörte vor rund 100 Jahren sicher nicht zum Alltäglichen. Außergewöhnlich sind auch ihre Darstellungen aus der Sicht des Kindes Gretchen, die grammatisch, syntaktisch und semantisch den (klugen!) kindlichen Gedanken erzählerisch angepasst sind. Margarete Beutler gibt in ihren Geschichten vieles von sich und der Zeit, in der sie lebte, preis. Es ist zu hoffen, dass die besagten Kartons weitere Schätze enthalten und diese bald ebenfalls das Licht der Welt erblicken.

Weitere Informationen zum AvivA-Verlag und zu Margarete Beutler finden Sie hier.

Hier können Sie das lesenswerte Buch (in übrigens besonders schöner Gestaltung) bestellen und dank Leseproben auch vorab darin stöbern.

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