
„Morgenröten zu entdecken und goldene Möglichkeiten, eine tapfere und ahnungsreiche Seele zu lieben – wer wünschte das nicht, dachte er, wenigstens einmal in seinem Leben.“
Ja, wer wünschte das nicht? Und wer kennt sie nicht, die Mitternächte der Seele? Solch gewaltige, kraftvolle Sätze begegneten mir auf jeder einzelnen Seite meines Lieblingsbuches von Irvin D. Yalom, der mit klugem Witz und enormem Einfallsreichtum Fiktion und Wirklichkeit zu einem dichten, fesselnden und hochspannenden Roman verwebt. Es geht, natürlich, um den Denker und Dichter Friedrich Nietzsche – und somit um Philosophie und fröhliche Wissenschaft und um Menschliches, Allzumenschliches. Aber es geht auch um seinen Arzt Josef Breuer, Freund und Mentor Sigmund Freuds – und somit um Medizin und Psychoanalyse. Vor allem aber geht es um Beziehungen, um Liebe, um Freundschaft und um Wille und Wahrheit – und letztlich um Verletzlichkeit und Heilung.
Wir begeben uns ins Jahr 1882 und starten unsere philosophisch-psychologische Reise zunächst in Venedig. Dort sucht Doktor Josef Breuer, angesehener Wiener Arzt und Mentor des jungen Sigmund Freud, ein wenig Ruhe und Abstand von seinem intensiven Praxisleben als Internist. Doch bereits nach kurzer Zeit bekommt er Besuch von einer ihm bis dahin unbekannten Dame, die ihn vom ersten Augenblick in seinen Bann zieht. Die selbstbewusste und schöne junge Russin Lou Salomé drängt Breuer, dem suizidgefährdeten Freund Friedrich Nietzsche zu helfen. Er leide unter unerträglichen Kopfschmerzen und sei von einer Obsession für Lou befallen. Ob die neuartige „Redekur“ Doktor Breuers Nietzsche von seiner krankhaften Verzweiflung heilen könne?
„Ich gehe schwanger mit Büchern. (…) Manchmal betrachte ich meine Kopfschmerzen als zerebrale Geburtswehen.“
Friedrich Nietzsche im Gespräch mit Doktor Josef Breuer
Der Roman ist fiktiv, die von Yalom so brillant inszenierte Begegnung zwischen Nietzsche und Breuer hat real nie stattgefunden. Aber was heißt das schon? Sie hätte genauso abgelaufen sein können. Die Geburtsstunde der Psychoanalyse wurde bisher in keinem vergleichbaren Werk derart lebensnah und – ebenso wichtig – lesensnah zwischen zwei Buchdeckeln dargestellt. Die Dialoge zwischen Nietzsche und Breuer sind spannend wie ein Krimi und berührend wie eine Liebesgeschichte. Sie lassen uns als Lesende ganz nah dabei sein, mal mit-fiebernd, mal mit-leidend, stets mit-hoffend. Wer dabei Arzt oder Patient ist, wechselt dynamisch.
Einen tanzenden Stern gebären
Manche Sätze oder verbalen Gedankenspiele sind derart wuchtig, dass man einen Moment innehalten und sie „für sich einfangen“ möchte:
„Wieder blätterte Nietzsche in seinen Aufzeichnungen, dann las er: ‚Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.‘ Breuer störte sich zunehmend an Nietzsches Vortragsstil. Die Sprache des Dichters schob sich wie eine Wand zwischen sie. Alles wäre viel einfacher, fand Breuer, wenn es ihm gelänge, Nietzsche von den Sternen herunterzuholen.“
Ob es ihm gelingt, soll hier nicht verraten werden. Auch nicht, wie das Buch zu seinem Titel gekommen ist. Das muss man einfach selbst gelesen haben!
Als „Und Nietzsche weinte“ 1992 auf den (zunächst amerikanischen) Markt kam, schrieb „The New York Times“: „Irvin D. Yalom beweist einmal mehr, dass Psychotherapie in den Händen eines fähigen Autors den Stoff für die großartigste und einfallsreichste Belletristik liefern kann.“ Dem kann ich ohne Einschränkung zustimmen. Und ich wünsche meinem Lieblingsbuch von Yalom (übrigens einer meiner Lieblingsautoren!) noch viele staunende und begeistere Leser und Leserinnen. (Renja Lüer)